EXPERTISE – BEHANDLUNGSSCHWERPUNKT
Wer es schon einmal durchlebt hat, der wird noch wissen, wie es sich anfühlt – andere können es sich nur schwer vorstellen: Alles läuft nach Plan. Man hat soviel Energie und Leistungsfähigkeit wie nie zuvor. Die ersten wichtigen Wettkämpfe werden ungeduldig erwartet, denn ehemalige Bestzeiten scheinen geradezu pulverisiert werden zu können. Freizeit? Fehlanzeige. Es wird trainiert. Zeit für den Lebenspartner? Fehlanzeige. Der muss Rücksicht nehmen. Es wird trainiert. Zeit zur Erholung nach dem Sport? Fehlanzeige. Man hat ja auch noch einen Beruf. Zunehmende Müdigkeit am Tage wird in diesem Zustand genauso wie eine neuerlich wieder schmerzende Achillessehne gerne übersehen. Sind die Trainings- und Wettkampfergebnisse irgendwann doch etwas schwächer als erwartet, wird das ohnehin immense Training gesteigert. Reicht das noch immer nicht , folgt eine weitere Umfangssteigerung. Der Athlet nimmt diese zunehmenden Missstände nicht wahr – Warnzeichen des Körpers werden entweder überhaupt nicht bemerkt oder aber verdrängt. Das Erreichen der Topform steht im Vordergrund.
Wenn der Sportler es dann endlich merkt, ist es oftmals zu spät. Vielleicht sinken die Wettkampfleistungen plötzlich ins Bodenlose, vielleicht steigt der morgendliche Ruhepuls und der Athlet fühlt sich so unwohl, dass an ein Training nicht mehr zu denken ist. Die Muskeln schmerzen und die Achillessehne macht das Laufen letztlich unmöglich. Der Ehepartner streikt, weil der Betroffene bei der geringsten Kleinigkeit ausrastet. Im schlimmsten Falle dekompensiert der Athlet völlig und es kommt zum totalen Einbruch der Leistungsfähigkeit, der auch das berufliche Wirken in Gefahr bringen kann. Übertraining hat viele Gesichter. Alle Schweregrade und diverse Erscheinungsformen sind denkbar.
Diese Definition prägte der Sportwissenschaftler ISRAEL bereits im Jahre 1976. Von einer physiologischen Ermüdung aufgrund eines geeigneten Trainingsreizes mit anschließender Erholung binnen "kurzer Zeit" wird das Übertraining durch die Formulierung "über einen längeren Zeitraum" abgegrenzt. Der übertrainierte Körper ist nicht mehr in der Lage nach einem Trainingsreiz eine ausreichende Erholung zu erreichen. Superkompensationseffekte, die sonst die Leistung steigern, bleiben aus oder verkehren sich ins Gegenteil. Die so entstehende verminderte Leistungsfähigkeit wird verständlicherweise durch eine Erhöhung des Trainingspensums weiter eingeschränkt. Der Sportler gerät in einen Teufelskreis aus steigendem Training und immer weiter sinkender Leistungs- und Regenerationsfähigkeit.
SUPERKOMPENSATION
Auf einen Trainingsreiz mit darauf sinkender Leistungsfähigkeit folgt die Erholung mit vergrößerter Leistungsfähigkeit.
SUMMATION VON SUPERKOMPENSATIONS-EFFEKTEN
In der Phase der gesteigerten Leistungsfähigkeit wird der nächste Belastungsreiz gesetzt. Es kommt so fortlaufend zu weiteren Anstiegen in der Leistungsfähigkeit.
ÜBERLASTUNG DURCH UNZUREICHENDE REGENERATIONSPHASEN
Die Trainingsreize werden nach unzureichender Erholung gesetzt. Es kommt zu einem absinken der Leistungsfähigkeit.
Ein Übertraining äußert sich auf verschiedenen Wegen und betrifft mehrere Funktionssysteme des Körpers. GEIGER hat dies in einem anschaulichen Modell zusammengefasst, in welchem er das Steuersystem (Zentralnervensystem, vegetatives Nervensystem und hormonelles System), das Muskel- und Energiesystem sowie das Herz-Lungen-System unterscheidet. Alle Systeme stehen miteinander in Verbindung – und wenn es in einem der Systeme zu Störungen aufgrund einer Überlastung kommt, dann sind unweigerlich alle anderen Funktionssysteme mitbetroffen, was sich letztlich in einem Leistungsabfall bemerkbar macht.
Fehlfunktionen der Systeme äußern sich wie folgt (nach GEIGER):
Interessanterweise finden Änderungen in den verschiedenen Systemen häufig in unterschiedlichen Richtungen statt, dies ist für die Diagnose eines Übertrainings von großer Bedeutung. Man unterscheidet nämlich generell zwei Formen des Übertrainings. Das Erregungsübertraining (sympathikoton) und das Hemmungsübertraining (parasympathikoton). Diese Einteilung von ISRAEL ist sehr nützlich und sinnvoll, da die zwei Formen des Übertrainings auch Konsequenzen für die Therapie mit sich bringen.
Das vegetative Nervensystem besitzt zwei Ausgänge. Der Sympathikus steuerte zu Urzeiten Kampf- und Flucht-Reaktionen („fright, fight and flight” – erschrecken, kämpfen und flüchten). Die Pupillen stellen sich weit, Herzschlag und Blutdruck steigen. Die Aufmerksamkeit wird erhöht (Schrecksekunde) und zu diesem Zeitpunkt unwichtige Köperreaktionen wie die Verdauung werden weitestgehend eingestellt. Diese werden in Ruhephasen durch den Parasympathikus gesteuert. Die Verdauung und Regeneration wird durch dessen Erregung gefördert. Die Pupillen stellen sich wieder eng und auch Blutdruck und Pulsschlag gehen auf niedrige Werte zurück.
Das Erregungsübertraining findet man häufiger bei jungen Sportlern und kürzeren Distanzen (was keinesfalls heißt, dass es bei Langstrecklern nicht vorkommen kann!). Der Verlauf ist oft dramatisch, deshalb leicht zu erkennen und bei entsprechender Behandlung relativ kurz. Anders ist das beim Hemmungsübertraining: Man findet es häufiger bei erfahrenen Athleten auf längeren Distanzen. Der Verlauf ist wenig dramatisch und kann als schleichend charakterisiert werden, was die Erkennung enorm erschwert. Die Entstehung und Behandlung setzen einen wesentlich längeren Zeitraum voraus als beim Erregungsübertraining.
Die Symptomatik der beiden Übertrainingsformen nach ISRAEL:
ERREGUNGSÜBERTRAINING |
HEMMUNGSÜBERTRAINING |
leichte Ermüdbarkeit
|
abnorme Ermüdbarkeit (zwar fehlen die Topleistungen, ein Halbmarathon könnte aber kurz nach Erreichen des Ziels ein zweites Mal gelaufen werden) |
Erregungszustände |
Hemmungszustände |
innere Unruhe Druckschmerz |
phlegmatische Stimmungslage |
Appetitstörungen |
Appetit normal |
Gewichtsverlust |
Gewicht normal |
Nachtschweiß |
– |
Blässe |
– |
Kopfschmerzen |
klarer Kopf |
Schlafstörungen |
Schlaf normal |
beschleunigter Herzschlag in Ruhe und unter Belastung |
in Ruhe eine verlangsamte Herzfrequenz |
verzögerte Rückstellung der Herzfrequenz nach Belastung |
normale Herzfrequenzrückstellung |
Grundumsatz erhöht |
Grundumsatz normal |
beschleunigte Atmung unter Belastung |
Atmung normal |
generell verzögerte Erholung |
Erholung normal |
gehäuft Verletzungen |
gehäuft Überlastungsschäden |
Mediziner und Sportwissenschaftler vergleichen die zwei Übertrainingsarten gerne mit verwandten Krankheitsbildern. Das Erregungsübertraining wird auch als basedowoides Übertraining bezeichnet. Die Basedowsche Krankheit ist eine Überfunktion der Schilddrüse, die ebenfalls mit gesteigerter Erregung, hohem Pulsschlag, Schlafstörungen sowie erhöhtem Grundumsatz und weiteren Symptomen einhergeht.
Das Hemmungsübertraining nennt der Experte auch addisonoides Übertraining. Die Addisonkrankheit ist eine Unterfunktion der Nebennierenrinde, die aufgrund von Hormonausfällen u.a. mit einer Schwäche und Antriebslosigkeit einhergeht.
Sinkt nun die Leistungsfähigkeit eines Athleten unerklärt ab und es findet sich eine Auswahl der obigen Tabelle erwähnten Symptome, so kann natürlich ebenso gut eine organische Erkrankung zugrunde liegen. Bevor also ein Übertraining festgestellt wird, muss ein gut geschulter Mediziner organische Erkrankungen mit ähnlicher Symptomatik ausschließen:
Leider wird man in der Medizin nie alle Erkrankungen ausschließen können, was die Diagnose Übertraining als reine Ausschlussdiagnose schwierig macht.
Seit geraumer Zeit sind deshalb viele sportmedizinische Institute damit beschäftigt Kriterien zu finden, die für ein Übertraining beweisend sind. Leider sind alle gefundenen Faktoren bei übertrainierten Athleten nur teilweise vorzufinden. Ein negatives Ergebnis der meisten Blutuntersuchungen oder anderer Tests ist somit niemals als ein Ausschlussfaktor für das Überlastungssyndrom zu werten. Ferner deutet nicht jeder positive Wert zwangsläufig auf ein Übertrainingssyndroms hin. Die Untersuchungsbefunde können nicht mehr sein als ein Teil des Puzzles, welches für die Diagnose Übertraining zusammengefügt werden muss.
Untersuchen kann man auf:
Arzt und Athlet müssen sich bewusst sein, dass diese Laborwerte trotz teilweise horrender Kosten nicht die gewünschte Sicherheit bringen. Das einzig verlässliche Mittel, um ein Übertraining zu erkennen, ist die genaue Betrachtung des zurückliegenden Trainingszeitraums und der Begleitumstände. Es muss gefahndet werden nach einem gestörten Verhältnis von Belastung zu Entlastung, das in eine zunehmend schlechtere Leistungs- und Regenerationsfähigkeit geführt hat. Hierfür sind Trainingsaufzeichnungen sehr sinnvoll.
Stieg etwa der Ruhepuls während der letzten Wochen an, ohne dass die Belastung vermindert wurde? Sanken die Trainings- und Wettkampfleistungen schleichend und wurde der Trainingsumfang weiter gesteigert? Auch indirekte Faktoren mit Symptomen, die Sie Tabelle 1 entnehmen können, sind richtungsweisend. Kam es zu nächtlichen Schweißausbrüchen? Sank der Appetit? Haben Sie selbst oder Angehörige Stimmungsschwankungen bemerkt? Gerade in diesem Bereich kann es sinnvoll sein den Lebenspartner oder die Familie zu befragen. Das Umfeld bemerkt solche Veränderungen nämlich oftmals besser als der Athlet mit der in der Einleitung angesprochenen, eingeschränkten Wahrnehmung für Missstände. In jedem Falle ist aber auch hier das Trainingstagebuch ein wichtiges Hilfsmittel.
Unerfreulicherweise sind die Symptome eines Übertrainingssyndroms aber häufig so diffus und schleichend, dass man unter Umständen seine gesamte Lebenssituation überprüfen muss. Stress im Beruf und eine überfordernde familiäre Belastung können bei einem "normalen" Trainingspensum bereits in die Überlastung führen. Die Energiereserven des Körpers sind begrenzt. Auch vorangegangene Infekte und psychische Probleme wie Erwartungsdruck verhindern eine hinreichende Regeneration und können – gegebenenfalls über Wochen oder Monate kompensiert – abrupt in einen Leistungseinbruch gigantischen Ausmaßes führen, eventuell aber auch in ein dezentes Übertraining, was kaum erkannt wird und zu langfristigen unterschwelligen Leistungseinbußen führt. Wie bereits gesagt wurde, hat ein Übertrainingssyndrom viele Gesichter und kann in nahezu jeder Symptomkonstellation und in jedem Schweregrad auftreten. Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass auch die Einteilung nach ISRAEL sich durchaus vermischen und ein Hemmungsübertraining beispielsweise mit einem gesteigerten Ruhepuls einhergehen kann.
Wegbereiter eines Übertrainings in verschiedenen Bereichen des Sportlerlebens (nach Neumann, Pickenhain, Scharschmidt):
Wenn man die Liste der möglichen Wegbereiter eines Übertrainings als Betroffener durchgeht, stellt man häufig zahlreiche Dinge fest, die man zuvor nicht wahrgenommen hat oder nicht wahrnehmen wollte. Oftmals hilft dies mehr als alle Blutuntersuchungen beim Arzt, was jedoch nicht heißt, dass diese generell unnötig sind. Zum Ausschluss ernsthafter anderer Erkrankungen sind sie unabdingbar.
In der Akutphase des Übertrainings ist es sinnvoll die Therapie entsprechend des Krankheitstyps zu gestalten. Für beide Typen gilt zunächst eine Wettkampfpause. Je nach Schweregrad sollte diese mindestens zwei, oftmals sogar zwölf Wochen oder mehr betragen (beim Hemmungsübertraining länger als beim Erregungsübertraining). Eine Faustregel sagt, dass man das Training (und somit natürlich auch die Wettkämpfe) dreimal so lange reduzieren sollte wie die Entstehung des Übertrainingssyndroms gedauert hat. Wer also über einen Zeitraum von vier Wochen die Symptome ignoriert und sich überlastet hat (z. B. in einer speziellen Wettkampfvorbereitung), wird ca. zwölf Wochen brauchen um wieder belastbar zu werden. Dies kann im Extremfall mit dem Ende der Saison gleichgesetzt werden und bedeutet, dass es im Einzelfall sinnvoller ist, sich komplett auf die nächste Saison zu konzentrieren. Das Training sollte in dieser Zeit nicht völlig ausgesetzt werden, um einem Entlastungssyndrom vorzubeugen. Regenerative Aktivitätseinheiten in anderen Sportarten sind nun besonders sinnvoll (Schwimmen, Spielsportarten, Aquajogging...). Auf eine vollwertige Ernährung sollte geachtet werden – und auch der bekannte „Tapetenwechsel” hat positive Effekte.
Physikalische Maßnahmen sollten je nach Krankheitstyp anregenden (Hemmungsübertraining) oder dämpfenden (Erregungsübertraining) Charakter haben. So können Bäder, Massagen und Güsse in entsprechend fachlich kompetenter Ausführung zur Anwendung kommen. Von ärztlicher Seite sollten nachgewiesene Vitamin- und Spurenelementmangelzustände korrigiert werden, sofern dies über die Ernährung nicht möglich scheint. Im Extremfall kann der behandelnde Arzt auch versuchen mit Medikamenten ein dramatisches Erregungsübertraining zu dämpfen.
Ist ein solcher Zustand einmal erkannt, liegt es nun an Athlet und Trainer, die in das Übertraining führenden Faktoren zu beseitigen. Dies bedeutet eine exakte Analyse der wegbereitenden Faktoren und in vielen Fälle eine radikale Änderung des Lebensstils. Es müssen nicht unbedingt massive Fehler im Trainingskonzept vorhanden sein. Unter Umständen ist dieses völlig in Ordnung und einzig die unzureichende Gestaltung des Lebensstils ohne Regenerationsmöglichkeiten stellt die Ursache des Übertrainings dar. Oder aber der Stress im Beruf? Vielleicht auch der ständige Ärger mit dem Arbeitskollegen, der einem schlaflose Nächte bereitet? Die Behandlung eins Übertrainings hat also oftmals Konsequenzen, die weit über die ausgeübte Sportart hinausgehen. Der Athlet sollte die Zwangspause nutzen, um seine weitere Sportausübung und sein weiteres Leben neu zu organisieren.
Eine Prophylaxe ist einerseits über eine sorgfältige Trainingsplanung, Durchführung und Dokumentation möglich, andererseits sollte auch auf eine vernünftige Gestaltung der Freizeit mit entsprechenden Ruhephasen Wert gelegt werden. Von großer Wichtigkeit ist die Schaffung eines günstigen Umfeldes, sowohl im sportlichen als auch im privaten und beruflichen Bereich. Das größte Problem liegt sicher darin, dass der Athlet die Warnzeichen in seinem Bestreben zu immer besseren Leistungen ignoriert und keine Einsicht zeigt. Erst wenn es dann passiert ist und die Saison als Scherbenhaufen vor ihm liegt, wird er bereit sein, sein Handeln zu überdenken. Das soziale Umfeld kann durch deutliche Warnungen und klärende Gespräche viel dazu beitragen, dass es gar nicht erst so weit kommt.
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